In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sammelte der Autor Peter Rühmkorf Kindersprüche auf der Straße à la „Lehrers Kinder, Pastors Vieh gedeihen selten oder nie“. Daraus entstand 1967 die Anthologie „Über das Volksvermögen“, eine Wanderung durch den „literarischen Untergrund“. Das Buch wurde schnell zum Kult, weil es dem Volk aufs Maul geschaut hat und echte, gelebte Sprache präsentierte.
Ich hätte in den zurückliegenden Tagen ebenfalls eine Sammlung „Über das Volksvermögen“ zusammenstellen können, so überwältigend und vielschichtig waren die Reaktionen auf ein Zitat von Helmut Schmidt, das ich anlässlich seines Geburtstags am 23. Dezember gepostet habe und das bis Sonntag-Abend rund 82.000 Mitglieder auf LinkedIn mit knapp ca.118.000 Impressions gefunden hat – und annähernd 150 Kommentare und Repliken ausgelöst hat. Das Zitat lautete: „Wer in die Politik gehen will, soll einen Beruf erlernt und ausgeübt haben, in den er jederzeit zurückkehren kann, denn nur so kann er sich seine Unabhängigkeit bewahren.“
Ich bin einerseits überwältigt von der großen, geradezu nostalgischen Verehrung, die diesem Bundeskanzler von 1974 bis 1982 heute noch (oder wieder) entgegengebracht wird – wobei er neben Konrad Adenauer und über alle anderen gestellt wird. Hier wird der weit verbreitete Wunsch deutlich, einen Menschen dieses Kalibers wieder zur Wahl zu haben. Über alle politische Couleur hinweg sind sich die Kommentare einig: eine solche Person ist von rechts bis links in der deutschen Politik derzeit nicht zu finden.
1969 war Helmut Schmidt Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und war zusammen mit dem damaligen Unions-Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel wesentlich dafür verantwortlich, dass die Große Koalition unter Georg Kiesinger überhaupt handlungsfähig war. Ab Oktober 1969 übernahm er in der Regierung Brandt zunächst das Amt des Verteidigungsministers, dann des Finanzministers, ehe er von Willy Brandt das Amt des Regierungschefs übernahm. Er ist der Mann, der der RAF entgegentrat, der Mann des Nato-Doppelbeschlusses und die Person, die für eine zehnprozentige Inflation verantwortlich gemacht wurde, die durch den Öl-Boykott verursacht wurde.
Er ist allerdings auch der Mann, der – und darauf haben mich viele aufmerksam gemacht – zwar Volkswirtschaft studiert hat, aber nie darin promovierte und den Beruf des Volkswirts in welcher Funktion auch immer niemals ausgeübt hat. Seine Ausbildung, so lauten einige Repliken, habe er bei der Wehrmacht und somit als Offizier im Zweiten Weltkrieg erfahren – wobei ich glaube, dass erst diese niemand zu gönnende harte Schule die Voraussetzung war, Tausenden von Hamburgern bei der Springflut 1954 das Leben retten zu können.
Wir müssen dagegen beklagen, dass wir beim Hochwasser im Ahrtal zu viele Wegducker in den politischen Ämtern hatten, dass wir zwar von einem Doppel-Wums hören aber keinen Nato-Doppelbeschluss vor Augen haben. Wir haben seinerzeit Sonntagsfahrverbote akzeptiert, können aber mit schlampig daherkommenden Gesetzen zur Heizungsreform nicht leben. Wir haben eine andauernde Teuerungsrate, die zwar nicht an die Zahlen der Vergangenheit heranreicht, vielen aber dennoch die Lebenshaltungskosten ins Unerträgliche steigert. Wir beklagen einerseits den Fachkräftemangel, diskutieren andererseits aber darüber, ob wir jetzt möglichst schnell syrische Spezialisten in Krankenhäusern und Maschinenbauunternehmen wieder nach Hause schicken.
Viele Kommentare schlagen eine Reform vor, die politische Mandate auf acht Jahre beschränkt, so dass Politiker gezwungen sind, als „hart arbeitender Mittelstand“ ihren Unterhalt zu bestreiten. Viele schlagen vor, eine Ausbildung ganz im Schmidtschen Sinne als Voraussetzung für das passive Wahlrecht zu fordern. Andere nennen das undemokratisch, weil es beispielsweise jungen Menschen den Weg in die Politik verwehrt oder zumindest erschwert. Wieder andere zeigen, wie sehr sie sich von der heutigen Politik-Welt abgewendet haben. Sie erwarten von keinem der zur Wahl stehenden Personen eine Wende zum Besseren.
Übrigens: Laut Statistischem Bundesamt waren von den insgesamt 733 Abgeordneten des 20. Deutschen Bundestages 215 im Öffentlichen Dienst beschäftigt, davon waren wiederum 104 verbeamtet. 200 waren Selbständige in der Wirtschaft oder in Freien Berufen. 108 Angestellte, die in Wirtschaftsunternehmen stehen und 125 Menschen, die in politischen Organisationen tätig sind. Und über 85 Abgeordnete gibt es keine verwertbaren Informationen.
Es ist leicht, sich von der Politik abzuwenden, mit geschlossenen Augen- wenn überhaupt - ein Kreuz zu machen und danach darüber zu menetekeln, dass ja doch alle gewogen und für zu leicht befunden wurden. Es ist aber an uns, die Wahl zu treffen. Wir sind der Souverän! Und vielleicht ist für viele mittelständische Unternehmer – abgesehen von Aufsichtsratsmandaten –ja auch ein Engagement in der Politik denkbar.
Man kann mit Bertolt Brecht die aktuelle Situation und die Qual unserer Wahl passend beschreiben: „Es sind die dümmsten Kälber, die wählen ihre Schlächter selber.“ Heute sind es vielleicht keine Schlachthof-Arbeiter, die wir zur Auswahl haben. Aber diese, mich faszinierende Resonanz auf meinen Post auf LinkedIn zeigt einen breiten Konsens über das Personal, das zur Wahl steht. Es besteht nicht aus Schlächtern, sondern – das ist meine Meinung – vielfach aus Schlechten.
Daraus gibt es nur eine Konsequenz: Wir, die wir uns für geeigneter halten, für weitsichtiger, für wirklichkeitsnäher und vor allem für zupackend und pragmatisch, sollten uns der Politik nicht verweigern. Das gilt für Kommunen, für das Bundesland und den Bund. Wir sind das Volksvermögen!
Und liebe BonnBlog-Lesegemeinde mein Abschlusswunsch zum kommenden Neuen Jahr:
Die Vergangenheit können wir nicht ändern, aber die Zukunft liegt in unserer Hand. Nutzen wir das Neue Jahr, um unsere Träume zu verwirklichen. Euch allen ein gutes Neues Jahr