Eltern, die Kinder im heranwachsenden Alter haben oder hatten, kennen das: Auch die einfachsten Aufgaben sind plötzlich eine Nummer zu groß. Zimmer aufräumen zum Beispiel – oder Selbstverteidigung. Dann muss man nur mal so richtig laut werden, ein Handy-Verbot aussprechen oder den Zugang zu Netflix sperren – und schon klappt es mit dem Aufräumen – oder mit den Militärausgaben.
Jedenfalls erscheint die Europäische Union in den letzten Wochen wie eine Gruppe von 27 pubertierenden Halbwüchsigen, denen erst einmal aus dem Weißen Haus heraus gehörig die Leviten gelesen werden mussten, ehe sie spurten. Jetzt sollen die Milliarden nur so sprudeln, um die Verteidigung des freiesten aller Kontinente in die eigene Hand zu nehmen. Alle 14 Tage Wäsche waschen bei Mutti war gestern. Ab heute wird selbstverantwortlich gelebt. Und zwar auf eigene Schulden – selbst, wenn es die Schulden unserer Kinder sein werden.
Die Generation derjenigen, die vor vier Jahrzehnten im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von Pershing-Mittenstreckenraketen und den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben, ist jetzt die Altersklasse der krassesten Befürworter einer Wiederaufrüstung. Dass sie auch für die Wiedereinführung der Wehrpflicht stimmen würde, kann nicht verwundern – sie würde ja auch nicht gezogen. Stattdessen: Scheckbuchmentalität. Während die geplanten Ausgaben für mehr Kriegstüchtigkeit und die damit verbundene Lösung der Schuldenbremse von annähernd drei Vierteln der Bevölkerung gutgeheißen werden, sind nur 17 Prozent der Deutschen, also nur jeder sechste, bereit, das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
Aber wer soll´s dann richten, wenn es zum Schwur kommen sollte? Schon mehren sich die Stimmen, dass Europa vor allem seine KI schicken sollte, statt seine Kinder. Nach einem gemeinsamen Papier von Militärexperten unter der Führung von Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts der deutschen Wirtschaft, sollten Deutschland und Europa in „asymmetrische Überlegenheit“ investieren. Will sagen: Satellitengestützte Aufklärung, KI-basierte Strategieplanung, Abwehr gegen Cyber-War und vor allem autonome Systeme – zum Beispiel selbststeuernde Drohnen.
In dem Papier, das neben Schularick auch der ehemalige Airbus-Chef Tom Enders und der jetzige Airbus-Aufsichtsratsvorsitzende René Obermann sowie die Unternehmerin und Investorin Jeannette zu Fürstenberg unterzeichnet haben, werden Maßnahmen angeregt, die schon innerhalb von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wirksam werden könnten. Gleichzeitig warnen die Autoren davor, Kampfjets vom alten Typ – etwa die US-amerikanische F-35A – einzukaufen. Das werde wegen der regelmäßig notwendigen Software-Updates nur zu einer Abhängigkeit führen, wie wir sie im Internet, im Cloud Computing und eben auch bei der Künstlichen Intelligenz heute schon bewusst und fahrlässig in Kauf genommen haben.
Es wäre falsch, in die Verteidigung von gestern zu investieren. „Wir brauchen wohl eher eine Millionen Drohnen als 2000 Panzer“, sagte Schularick. Die Kriegsführung in der Ukraine habe gezeigt, dass ein 25 Millionen Euro teurer Panzer durch eine Drohne im Wert von 5000 Euro zerstört werden könne. Und niemand müsste dazu eine Waffe in die Hand nehmen. Es reicht eine Tastatur. Vielleicht ist es Zeit, jedermann eine Vollversion von World of Warcraft zur Verfügung zu stellen.
Dabei ist ein Investment in autonome Systeme aus vielerlei Gründen vielversprechend. Das Silicon Valley, das seinen Aufstieg ausschließlich den Anfangsinvestitionen der DARPA, dem Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums, zu verdanken hat, hat uns vorgemacht, wie aus militärischen Anwendungen ziviler Nutzen entwachsen kann. Warum sollten aus den 500 Milliarden Euro für die Wiedererlangung der Kriegstauglichkeit nicht auch ein „Silicon Ruhrgebiet“ entstehen? Deutschlands durchaus zahlreiche KI-Startups, die bisher eher ein Schattendasein unter der Abneigung der Friedensbewegten geführt haben, sind ein Beispiel dafür, dass KI-Forschung hierzulande auch mit Blick auf mögliche militärische Auseinandersetzungen vorangetrieben wird.
Und wie durch ein Wunder hat vor wenigen Monaten der 32. Satellit für das Europäische Navigationssystem Galileo – zwar mit Verspätung, aber immerhin – abgehoben und damit ein Geopositionssystem mit einer Genauigkeit von rund 30 Zentimetern geschaffen. Wie sehr eigenständige Aufklärung aus dem Orbit notwendig ist, erleben derzeit die ukrainischen Soldaten, denen die USA jetzt Aufklärungsdaten verweigern und diese deshalb mehr oder weniger im Nebel „auf Sicht“ operieren müssen.
Wir sollten uns auf nichts mehr verlassen, denn auf uns selbst – und dabei die „Gnade des späten Erwachsenwerdens“ nutzen, indem wir die modernste Armee der Welt aufstellen. Wir müssen nicht die gesamte Evolution der militärischen Fehlinvestitionen nachholen. Das ist übrigens auch eine Lehre, die wir unserem pubertierenden Nachwuchs mitgeben sollten. Setze auf deine eigenen Stärken, aber höre auf den Rat derer, die schon einige Lebenserfahrung gesammelt haben. Europa muss jetzt erwachsen werden.