Der Substanzverlust an Deutschlands intellektueller Infrastruktur schreitet immer schneller voran. Das zeigt sich nicht nur in der Bildungsmisere, an Kindergärten, Grundschulen, weiterführenden Schulen, an den Universitäten und in den Dualen Studiengängen oder der Weiterqualifizierung der Belegschaft. Es zeigt sich auch – und das ist fast noch schlimmer – in der politischen Debatte, egal ob im Bundestag, in den sozialen Medien oder – für jedermann live zu besichtigen – in den Polit-Talkshows. Es ist kaum anzunehmen, dass die Gespräche in den Hinterzimmern von Ministerien, in den Strategiezirkeln der Parteien oder an den politischen Stammtischen urplötzlich ein höheres Niveau erreichen sollten.
Und es wird noch schlimmer: Derzeit werden Äußerungen zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands vor allem mit Blick auf Meinungsumfragen formuliert – und je nach Stimmungslage auch umformuliert. Die Beliebigkeit der Meinungsbeiträge ist atemberaubend. Das Adenauer-Motto – „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ – feiert nach siebzig Jahren wieder fröhliche Urständ.
Allein die Sozialdemokraten bleiben sich treu und halten an ihrer Schmierenkomödie um die Kanzlerfrage fest und bleiben damit in den Schlagzeilen. Die Union weiß nicht, ob sie lieber mit oder gegen die Grünen regieren will, während Noch-Co-Kanzler Robert Habeck deutliche Signale an die CDU sendet, nun künftig den Karren wertekonservativ aus dem Dreck zu ziehen. Das wiederum bringt den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner in Wallung, der postwendend den „lieben Friedrich“ ermahnt, mit den Grünen kein „Weiter so“ anzusteuern. Als wäre eine schwarz-gelbe Koalition überhaupt in der Nähe einer Wahrscheinlichkeit.
Abgesehen davon, dass der politische Stil und die inhaltliche Auseinandersetzung dabei auf der Strecke bleiben – der eigentliche Verlierer dieses Wahlkampfs steht schon jetzt fest: es ist die deutsche Wirtschaft und insbesondere der deutsche Mittelstand. Die Unternehmen kämpfen buchstäblich um ihr Überleben. Ich höre von Unternehmerinnen und Unternehmern, die die Selbstentleibung einer gefühlten Schande des Scheiterns vorziehen würden. Was sie brauchen ist Wirtschaftspolitik und keine Wurschtelpolitik, die sich nun unweigerlich bis zum 23. Februar und darüber hinaus fortsetzen wird.
Stattdessen denkt unser Politik-Tableau bei Prozentpunkten nicht an das Bruttoinlandsprodukt, sondern an die Ergebnisse der nächsten Meinungsumfragen. Und als wäre das nicht Katastrophe genug, droht nach der Wahl nicht nur ein weiteres konjunkturelles Desaster, sondern ein Schicksal, das uns bereits unsere Nachbarn in den Niederlanden, in Frankreich, in Österreich, Tschechien oder Ungarn vorexerzieren: Die Unregierbarkeit durch Populisten. Und auch das ist ein beklagenswerter Substanzverlust! Deshalb: Reißt euch zusammen und rauft euch zusammen. Jetzt – und nicht in der Nacht auf den 24. Februar!
Doch in diesem beklagenswerten Substanzverlust ist die intellektuelle Infrastruktur praktisch ein Spiegelbild unserer physischen Infrastruktur – also Gebäude, Verkehrswege, Industrieanlagen und (siehe oben) Bildungseinrichtungen. Kommunen, Länder und der Bund sowie die Wirtschaft schreiben mehr Werte ab als sie neu investieren. Auf 4,5 Milliarden Euro beläuft sich der Substanzverlust an öffentlichen Gebäuden. 600 Milliarden Euro würde die Erneuerung unserer Verkehrs- und Energie-Infrastruktur verschlingen, heißt es.
Dabei ist die Klage nicht neu: Vor zehn Jahren – in der Debatte zum von einer schwarz-roten Koalitionsregierung vorgestellten Bundeshaushalt 2015 beklagte die Opposition (aus Grünen, FDP und Linken) bereits das Festhalten an der Schwarzen Null und einen Substanzverlust seit 2003, beschleunigt durch die Finanzkrise 2008. Was ist seitdem passiert? Ein weiter beschleunigter Substanzverlust.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat zuletzt im Sommer 2022 zum dritten Mal nach 2013 und 2018 Unternehmen befragt, wie sich der Zustand zentraler Infrastrukturen auf ihre laufende Geschäftstätigkeit auswirkt. Die Lage hat sich seit der ersten Befragung immer weiter verschärft. Vier von fünf der befragten Unternehmen sehen sich im Jahr 2022 regelmäßig durch Infrastrukturmängel in ihrer Geschäftstätigkeit beeinträchtigt. Das waren über 20 Prozentpunkte mehr als im Herbst 2013. Gegenüber 2018 hat sich vor allem der Anteil der deutlich beeinträchtigten Unternehmen von 16 Prozent auf 27 Prozent erhöht.
Die Umfrage stammt aus der Frühphase des Ukraine-Kriegs, als die enormen Belastungen durch die Energiepreisexplosion noch gar nicht abzusehen waren. Weder Politik noch Wirtschaft haben damals in den Abgrund zu schauen gewagt, der sich damals vor uns aufgetan hat. Heute sind wir einen Schritt weiter.
Wir brauchen jetzt keine geduldete Minderheitsregierung, sondern eine Allparteienkoalition des guten Willens, die (fast) alle im Bundestag vertretenen Parteien einbezieht und gleichzeitig handlungsfähig ist. Wir können uns einen weiteren Substanzverlust bis zum 23. Februar und darüber hinaus einfach nicht mehr leisten. Wer schnell hilft, hilft doppelt – und wird bei der Bundestagswahl belohnt. Wer dagegen blockiert, blockiert auch sich selbst.