Tagethemen-Moderatorin Dunja Hayali erzählt einen Witz: „Wenn Sie mit der Deutschen Bahn fahren wollen, nehmen Sie sich besser für den Tag nichts anderes mehr vor!“ Anlass war die Nachricht von stundenlangen Verkehrsstörungen im Großraum Frankfurt, der sich nach und nach auf das gesamte bundesweite Schienennetz auswirkte. Der Grund für die „Störung im Betriebsablauf“, war der Ausfall des Funknetzes, über das zwischen Lokführern und der Leitzentrale teils analog, teils digital kommuniziert wird. Die sich peinlich häufenden Verspätungen, Zugausfälle oder Fahrplanstreichungen hatten schon während der Fußball-Europameisterschaft international für Negativschlagzeilen gesorgt. Jetzt, in der Kurzausgabe der Tagesthemen in der Halbzeitpause des Nations League Spiels der deutsche Nationalmannschaft gegen die der Ungarn, konnte Dunja Hayali nur noch achselzuckend kommentieren: „Täglich grüßt das Murmeltier namens Deutsche Bahn“.
Es war nicht das einzige Murmeltier, das wieder einmal in den täglichen Nachrichten grüßt: Der Volkswagenkonzern steht offensichtlich in tiefer Trauer vor einem Milliardengrab, das mit strengen Einsparungsmaßnahmen, die auch die Aufkündigung des Beschäftigungspakts zwischen Betriebsrat und Vorstand nicht ausschließt, nicht einmal annähernd geschlossen werden kann. Es sind keineswegs nur die exogenen Verwerfungen aus Handelsstreit zwischen China und den USA und der Absatzkrise auch im Inland, die zu dieser existenziellen Schieflage geführt haben. Denn Volkswagen ist typisch für das Ende eines Wachstumsmodells, von dem Deutschland lange profitiert und auf dem es sich zu lange ausgeruht hat.
In den goldenen drei Globalisierungsjahrzehnten ab 1990, die mit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg ein jähes Ende fanden, konnten alle Murmeltiere locker weggelächelt werden: dank billigem Russen-Gas konnten vor allem die energieintensiven Industrien Erneuerungsprojekte auf die lange Bank schieben, während gleichzeitig die Automobilindustrie die sich abzeichnende Mobilitätswende aussitzen zu können meinte. Denn ausgerechnet das kommunistische China bescherte einen Sonder-Boom für deutsche Luxusautos und SUVs.
Auch die Murmeltiere der negativen demographischen Entwicklung und des sich kontinuierlich verschärfenden Fachkräftemangels grüßen seit den neunziger Jahren täglich, ohne dass aktive Maßnahmen in der Einwanderungspolitik durchgesetzt wurden. Stattdessen ließ sich Deutschland von Flüchtlingswellen überrollen, wodurch die Demographie nur noch verschärft und das Sozialsystem überdehnt werden. Außerdem vernachlässigen wir das Murmeltier namens Bildungssystem, das weder mit der Herausforderung der Integration fertig wird, noch die eigentliche Aufgabe ausreichend erfüllt, dem deutschen Arbeitsmarkt genügend gut ausgebildete Schulabgänger zu liefern.
Stattdessen wurde der Wohlstand aus den goldenen Globalisierungsjahrzehnten nach Ostdeutschland transferiert: Unfassbare zwei Billionen Euro sind seit der Wiedervereinigung in den wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Ost und West gesteckt worden – Geld, das im Osten nun zu einer Bakschisch-Mentalität der ewig Unzufriedenen führt und das im Westen an allen Ecken und Enden unserer Infrastruktur fehlt.
Ist das zu hart geurteilt oder populistisch, wenn nicht gar rechtspopulistisch? Da ist es auch aufschlussreich zu lesen, was das Ausland über uns schreibt. Im englischen Intelligenzblatt „Guardian“ erschien jetzt ein Beitrag unter dem Titel: „Ein analoges Land in einer digitalen Welt“. Er beweint die überbordende Regelungswut, die weit über die Regulierungen aus der Europäischen Union hinausgeht. Er beklagt die langsame deutsche Bürokratie, der es nicht gelingt, ihre analogen Prozesse digital zu erneuern.
Und er beklagt – wie schon vor Jahrzehnten das britische Wirtschaftsblatt „Economist“ den „kranken Mann Europas“, der es nicht mehr geschafft hat, auf der Welle der letzten drei „Kondratjews“ mitzuschwingen. Seit der auf Petrochemie basierenden Wirtschaftswelle konnten wir weder in der Chiptechnologie noch in der Computertechnik, der Telekommunikation, der Digitalisierung oder Software-Entwicklung Schritt halten. Und bei künstlicher Intelligenz bahnt sich das gleiche Desaster an: In Deutschland gibt es zwei KI-Startups auf 100.000 Einwohner – in den USA sind es fast dreimal so viel.
Die Quittung bekommen wir als täglich grüßendes Murmeltier in den internationalen Rankings. Unter den G7-Ländern ist Deutschland mit Abstand Tabellenletzter – bei durchschnittlich 0,4 Prozent Wirtschaftswachstum in den letzten sechs Jahren. Großbritannien, Frankreich und Italien, für die die größte europäische Wirtschaftsnation einmal Vorbild war, haben es geschafft, sich aus den globalen Rückschlägen der jüngsten Gegenwart zu befreien. Deutschland aber bleibt analog.
Und während nun von allen politischen Kommentatoren der Freistaat Thüringen als unregierbares Land hingestellt wird, grüßt ein viel fundamentaleres Murmeltier: Deutschland ist seit mehr als einem Jahrzehnt ein unregiertes Land, in dem nicht gestaltet, sondern verwaltet wird. Wenn sich das nicht ändert, ändert sich nichts. Und das ist kein Witz.