Der Dramatiker Frank Wedekind wandte sich gegen die Larmoyanz seiner Schriftstellerkollegen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerne darin übten, vermeintlich ungerechtfertigte Kritik im Besonderen und das Elend des Dichterlebens im Allgemeinen zu beklagen, statt sich mit eigener Kraft aus dem Prekariat zu befreien: „Ist mein Vater doch selbst schuld, dass ich mir die Finger abfriere. Warum schenkt er mir keine Handschuhe?“
Ersetzt man „Vater“ durch „Staat“ kommt man der Geisteshaltung, der wir auf allen Ebenen des politischen Diskurses begegnen, sehr nahe. Es zeigte sich nicht nur in den Wahlkämpfen zu den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg; es zeigt sich – und das betrübt mich fast noch mehr – auch in den Papieren und Studien, die jetzt überall in den Wirtschaftsverbänden aufpoppen und die vor allem eine Agenda für die Bundespolitik formulieren. Als wären drei Jahrzehnte an Bräsigkeit nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft zu beklagen.
Man macht sich einen schlanken Fuß, wenn man einerseits eine Senkung der Energiekosten fordert, andererseits aber aus Staatsräson kein oder kaum noch russisches Gas importieren möchte, während die Forderung nach Atomstrom gerade einmal die kommende Generation bedienen würde. Es ist auch einfach, auf die – vorhandenen – Bürokratiehürden in den Verwaltungen zu verweisen und Regulierung als Hemmschuh für Innovationen zu beklagen, aber gleichzeitig die verknöcherten Strukturen in so manchem mittelständischen Betrieb unerwähnt zu lassen.
„Industrie 4.0“ oder die digitale Transformation sind nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern zeichnen sich spätestens seit der Jahrtausendwende ab. Doch die geplatzte Dot.Com-Blase war für viele Fortschrittsskeptiker ein willkommenes Argument, die eigenen Innovationsprojekte auf die lange Bank zu schieben. Für eBusiness, wie wir das damals nannten, hatte man keine Zeit. Für das Internet der Dinge hat man heute aber kein Geld.
Der Investitionsstau hat sich bis heute auf sagenhafte 1,4 Billionen Euro – also 1400 Milliarden – aufgetürmt. Das ist ohne Zweifel den Bundesregierungen im letzten Vierteljahrhundert anzulasten, die Deutschland auf Kante genäht haben und uns außen- und wirtschaftspolitisch völlig naiv in die Abhängigkeit von Schurkenstaaten wie Russland und China gedrängt haben. Daran sind aber nicht weniger die DAX-Konzerne schuld, die dank billigem Russen-Gas attraktive Dividenden ausgeschüttet haben, statt bei Zukunftstechnologien voranzuschreiten. Und nicht weniger ist es dem deutschen Mittelstand anzulasten, die sich in ihrem Kokon eingesponnen haben, um den Innovationsdruck von außen ignorieren zu können.
Deutschland im Herbst: Es ist an der Zeit, sich selbst Handschuhe zu nähen oder zu besorgen, wenn wir den Winter überstehen wollen. 20 Prozent der deutschen Wertschöpfung, so rechnet der BDI unterstützt durch die Boston Consulting Group vor, seien gefährdet, weil die Unternehmer und Handwerker entweder ins Ausland abwanderten oder ganz einfach im Stillen das Geschäft aufgeben. Es lohnt sich aber auch, in diesen Betrieben mal nach dem Maschinenbestand und den Geschäftsprozessen zu schauen. Man kann nun mal mit den Methoden und Materialien aus den achtziger Jahren keine internationale Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten.
Und man kann den Wirtschaftsstandort Deutschland auch nicht mit den Ansichten aus dem Tausendjährigen Reich stärken. Ganz im Gegenteil wäre ein Ausstieg aus der EU und dem Euro ein Sargnagel für den auf Außenwirtschaft ausgelegten Mittelstand. Würden wir die Frauen in die Kreiss-Säle schicken, verlören wir intelligente und loyale Arbeitskräfte, während vergleichbar menschenverachtende Fantasien zur Remigration die Attraktivität des Standortes weiter schwächen würden.
Mir wurde zuletzt in den digitalen Medien geraten, weniger den BDI zu zitieren, dafür aber die AfD zu wählen. Das aber hieße, die ewig gestrigen Kräfte zu stärken, die in Wahrheit unser Land schwächen würden. Es ist im Gegenteil Zeit, Handschuhe anzuziehen, um eine Politik zu gestalten, die die Wirtschaft fördert und damit zugleich den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist an der Zeit, Handschuhe zu wählen, mit denen wieder zugepackt werden kann, wenn es im Mittelstand darum geht, die eigene Zukunft in die (behandschuhte) Hand zu nehmen. Und es ist an der Zeit, Handschuhe mit ein paar zusätzlichen Unzen Gewicht zu schnüren, um starke Argumente gegen Populisten zu formulieren. Sonst wird aus Deutschland im Herbst ein tiefer, langanhaltender Winter.