Je mehr Daten uns zur Verfügung stehen, desto weniger können wir die komplexen Zusammenhänge erkennen. Der menschliche Geist stößt bei zunehmender Komplexität an seine Grenzen. Wir erkennen sprichwörtlich den Datenwald vor lauter Datenbäumen nicht. Für künstliche Intelligenz kann es jedoch nicht genug Daten geben, um Muster zu entdecken, Zusammenhänge zu erkennen und die richtige Stecknadel im Stecknadelhaufen zu identifizieren. Deshalb sind große Datenhaufen und KI-Systeme ein optimales Paar für die Entwicklung von Schwarmintelligenz.
Niemand hat das früher verstanden und besser in ein Geschäftsmodell umgesetzt als der Suchmaschinenbauer Google. Beim Googeln produzieren wir Myriaden an Informationen, die nicht nur für hochgradig individualisierte Werbeeinblendungen genutzt werden und unsere Echoblase immer genauer auf unsere Person einrichten. Sie dienen auch dazu, langfristige Trends und sogar Gefahren vorherzusagen. Google Trends prognostiziert durch die Auswertung von Suchwörtern in einem bestimmten Zeitpunkt beispielsweise Grippewellen mit hinreichender Genauigkeit. Allerdings: auch die Analyse unserer Abwässer in den Kläranlagen führt zu ähnlichen Erkenntnissen. Massenhaft ausgeschiedene Fäkalien stellen folglich einen Datenhaufen dar, mit dem man Schwarmintelligenz erzeugen kann.
Jetzt hat auch die Steuerberater-Genossenschaft Datev die Schwarmintelligenz entdeckt. Sie nutzt dazu Millionen von Buchhaltungsdaten, die die Steuerberater bei ihren mittelständischen Kunden sammeln und über das Datev-Rechenzentrum abrechnen und verarbeiten. Anders als bei sporadischen Mittelstandsstudien, deren Ergebnisse oftmals interessengetrieben sind, sowie bei den Konjunkturmodellen der führenden Wirtschaftsinstitute kann sich der Datex-Mittelstandsindex darauf berufen, auf der Basis von Milliarden Datensätzen eine repräsentative und realitätsnahe Sicht auf den Zustand der rund drei Millionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland zu geben.
Die Analyse könnte freilich kaum schlechter ausfallen: Der Umsatz schrumpft und der Beschäftigungsaufbau ist nahezu zum Stillstand gekommen. Immerhin: „Die kleinen und mittleren Unternehmen halten so lange wie es irgendwie geht an ihren Mitarbeitenden fest“, resümiert Datev-Vorstandschef Robert Mayr. „Das ist ihr wesentliches Betriebskapital.“ Doch Mayr warnt auch, dass der Kipppunkt in der deutschen Wirtschaft erreicht ist, an dem auch kleine und mittlere Betriebe ihre Belegschaft nicht mehr halten können. „Aus meiner Sicht gibt es schon Anzeichen, dass wir an einem solchen Kipppunkt angelangt sind“, warnt er.
Mayr liefert nicht nur repräsentative Daten, sondern analysiert auch die Wirtschaftslage. Damit tritt er ein in den Chor der Kritiker, die von der Bundesregierung und der EU-Kommission eine neue Wirtschaftspolitik fordern. Neu ist allerdings, dass die Analyse auch Detailbetrachtungen nach Firmengröße, Branche und Region vorlegt und darüber hinaus auch die Themen erfasst werden, die die Betriebe ihren Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Rechtsanwälten auf den Tisch legen. Dazu gehören zum Beispiel Bürokratieaufwände, Kündigungen und Kreditanfragen.
Es lohnt sich, den Datev-Mittelstandsindex zu studieren. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) soll das Datenkonvolut nun monatlich exklusiv und vorab gewürdigt werden. Dazu greift die Datev in strikt anonymisierter und zusammengefasster Form auf die Umsatzsteuervoranmeldungen der Mandanten ihrer steuerberatenden Mitglieder zu. Anders als bei Studien und Wirtschaftsmodellen beruhen die Einschätzungen der Steuer-Genossen nicht auf Selbstauskünften und Selbstbildern der Befragten, sondern auf echten Daten für Umsatz, Lohn und Beschäftigung. „In der Aggregation der Daten ergibt sich ein Einblick in die Lage der Unternehmen, der früher als vergleichbare Wirtschaftsindikatoren zur Verfügung steht und der zudem auf kleine und mittelgroße Unternehmen fokussiert“, schreibt die FAZ in ihrer Ausgabe vom 24. September.
Der Umsatzindex basiert auf Daten von mehr als einer Millionen Unternehmen – also von einem Drittel des deutschen Mittelstands, während die Teilindizes zu Lohn und zur Beschäftigung auf Lohn- und Gehaltsabrechnungen von mehr als acht Millionen Personen gründen. Diese Informationen auszuwerten, ist für die Datev durchaus ein ungewöhnlicher Schritt. Allzu sehr ist man in Nürnberg darauf bedacht, unbedingtes Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu leben. Das ging sogar so weit, dass sich die Genossenschaft lange weigerte, ihre Rechenzentrumsdienstleistungen „Cloud Computing“ zu nennen, obwohl sie genau das sind.
Doch Cloud Computing führt auch zur Crowd Intelligence, und der Mittestand ist ein Schwarm, dessen Fieberkurve viel genauer betrachtet werden sollte. Deshalb sind auch andere Wirtschaftsinstitute an den Datev-Daten interessiert. Dabei waren es übrigens die Mandanten und Genossen, die einen solchen Index angeregt haben. Im Gegenzug nutzt die Datev nun ihre Rechenzentrumsleistung, um die Erkenntnisse auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz zu fördern. Hoffen wir, dass die Schwarmintelligenz aus dem Mittelstand Gehör und Gefolgschaft findet.