Ein Gespenst geht um in Europa – und diesmal ist es nicht die Enteignung durch den Kommunismus, sondern die Selbstenteignung durch Insolvenz oder Geschäftsaufgabe. Mehr als 20.000 Firmenpleiten erwartet die Deutsche Industrie- und Handelskammer allein 2024 für Deutschland. "Wegbrechende Nachfrage aus dem In- und Ausland, hohe Kosten für Energie und Fachkräfte, erhebliche Belastungen durch Steuern und Bürokratie - all das drückt auf die Geschäftsaussichten und die Finanzlage", erklärte DIHK-Mittelstandsexperte Marc Evers diese Woche gegenüber der Tagesschau.
Im Vergleich zum vergleichbaren Vorjahresmonat ist die Zahl der Insolvenzen im Oktober um 23 Prozent gestiegen, meldet das Statistische Bundesamt. Dabei gehen in diese Statistiken Firmenaufgaben erst ein, wenn sie vom Insolvenzgericht bestätigt werden – der Antrag erfolgt im Durchschnitt etwa drei Monate früher. Die Welle ist längst ins Rollen gekommen, während sich Regierung und Opposition gegenseitig wahlkämpfend lahmlegen.
Dabei benötigt gerade die Wirtschaft nichts dringender als kurzfristig wirkende Erleichterungen. Und da die aus der Politik in den kommenden drei Monaten kaum zu erwarten sind, handeln viele Firmenlenker derzeit nach einem Grundsatz aus der Antike: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Plötzlich sind die Zahlenmenschen gefragt, die Controller, die Durchgreifer und die Einsparer.
SAP-Vorstandsvorsitzender Christian Klein – selbst ehemals oberster Chef-Controller beim Walldorfer Softwarehaus – macht es offensichtlich vor: Beim ehemals beliebtesten Arbeitgeber Deutschlands wurde die großzügige Regelung zum Home Office kassiert. Nun will Klein seine Belegschaft drei Tage pro Woche im Büro wissen. Gleichzeitig soll ein neuer Wind wehen, der eine „Growth Culture“ etablieren soll. Ein Element dieser (Un-)„Kultur“ besteht darin, die Belegschaft künftig in Performer, Achiever und Improver einzuteilen, letzteres ist ein Euphemismus für Minderleister. Die Maßnahme erinnert an dunkelste Microsoft-Zeiten unter Steven Ballmer, als die jeweils schlechtesten Performer einer Abteilung geschasst wurden, egal wie gut sie waren.
Krise können ist die derzeit gefragteste Kernkompetenz. „Die Zeit der Schönwetterkapitäne ist vorbei“, fasste ein Personalberater die Situation den Unternehmen zusammen. Das Zitat erinnert an den Titel des vor gut 30 Jahren erschienenen Buches des Wirtschaftsjournalisten Günter Ogger: „Nieten in Nadelstreifen“. Das Buch prangerte die Versäumnisse der Unternehmen in den boomenden achtziger Jahren an, die schließlich in den herausfordernden neunziger Jahren sichtbar wurden. Es lohnt sich, noch einmal in das Buch zu schauen: Die Parallelen zur heutigen Zeit sind frappierend.
Doch noch mehr lohnt es sich, nach vorne zu schauen und Zukunftsszenarien für den Mittelstand zu entwickeln. Der Mittelstandsausschuss im Bundesverband der Deutschen Industrie hat dazu jetzt ein Papier veröffentlicht, an dessen Entstehen in den vergangenen drei Monaten ich ein wenig beteiligt war. Neben einem notwendigen Appell an die Politik, mehr Planungssicherheit durch beschleunigte Genehmigungsverfahren zu schaffen und – inzwischen ein Evergreen – den Bürokratieabbau voranzutreiben, sieht er fünf Handlungsempfehlungen vor, an denen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft Hand in Hand arbeiten sollten:
- Nachhaltige Energieversorgung wettbewerbsfähig gestalten
- Kreislaufwirtschaft in vollem Umfang etablieren
- Innovationen ermöglichen
- Ländliche Räume stärken und
- Potenziale der EU konsequenter nutzen.
Sie finden diese Handlungsempfehlungen hier: Publikation
Es mag überraschen, dass praktisch alle Themenschwerpunkte einen Bezug zur Umwelt haben, Es sind also durchaus langfristig ausgerichtete Ziele, die hier angedacht werden. Doch ohne Energieeffizienz, Nachhaltigkeit, digitale Transformation und künstliche Intelligenz ist auf lange Sicht kein Staat mehr zu machen. Und das hat auch kurzfristig positive Auswirkungen. Wer Energie spart oder zu günstigen Nachttarifen einkaufen kann, verbessert seine Marge ebenso wie durch die Nutzung von Recycling, Upsycling und Müllvermeidung. Über den Segen der Digitalisierung ist an dieser Stelle schon genug geschrieben worden.
Tatsächlich zeigt zum Beispiel die Arbeitsplatzstatistik in Nordrhein-Westfalen, dass inzwischen mehr Jobs in der Umwelttechnik existieren als in einer klassischen Domäne des bevölkerungsreichsten Bundeslands – nämlich der Metallverarbeitung. Diese Transformation hilft an allen Enden – egal, ob wir noch länger auf eine handlungsfähige Regierung warten müssen oder nicht. Die Handlungsempfehlungen sind eine positive Herausforderung für Manager mit einer entscheidenden Kernkompetenz: Krise können.