Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat jetzt aufgedeckt, wie die FDP-Bundesminister in mehreren Geheimsitzungen Szenarien für den Ausstieg aus der Ampel-Koalition entworfen, geprüft und durchchoreographiert haben. Ein Vehikel für den Bruch war das Papier, in dem Wirtschafts- und Finanzpositionen formuliert wurden, die mit Sicherheit in der Koalition nicht mehrheitsfähig und vor allem als Provokation gedacht waren. Im politischen Berlin wurde das Papier sofort als das verstanden, als das es gemeint war: ein Scheidungsbrief.
Eine Diskussion über seine Inhalte blieb weitgehend aus. Das hat mehrere Gründe. Einerseits vereinnahmte CDU-Chef Friedrich Merz das Papier sofort für sich, indem er und sein Generalsekretär sagten, es sei begrüßenswert – schon deshalb, weil es größtenteils aus CDU-Papieren abgeschrieben sei. Zum anderen war es ja genau wegen der Unvereinbarkeit mit Positionen in der SPD und beiden Grünen völlig ins Blaue hineingeschrieben. Ein Papier, über dessen Inhalte sich aus Mangel an Realitätsbezug zu diskutieren nicht lohnt. Inszenierung First, Inhalt Second!
Umgekehrt hatte Bundeskanzler Olaf Scholz ein Gegenpapier „hingerotzt“, wie es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck formuliert hatte, das seitdem ebenfalls inhaltlich nicht weiter diskutiert wird. Dafür hatte er Muße, drei Pressereden für die drei Szenarien des Ampel-Aus vorbereiten zu lassen. Also auch hier: Inszenierung First, Inhalt Second!
Der Vorschlag für einen Wachstumsfonds, wie er vom BDI vorgeschlagen und von Robert Habeck grün-durchwirkt aufgegriffen wurde, scheitert wiederum am schwarz-gelben Widerstand gegen eine Reform der Schuldenbremse. Insofern: Gegenstandslos! Also auch hier – bloß keine Diskussion über Inhalte.
Dafür wird über den Zeitpunkt der Vertrauensfrage gestritten und – gottseidank – auch mal entschieden. Dafür wird darüber nachgedacht, wer der bessere Kanzlerkandidat für die Sozialdemokraten wäre – das allerdings nicht aus inhaltlichen Überlegungen, sondern aus rein machterhaltendem Kalkül. Oder hätten wir etwa schon gehört, welche Position der Bundesverteidigungsminister beispielsweise zum Abbau von Sozialleistungen einnimmt. Dazu – und nicht nur über das Ausmaß des künftigen Wehretats – müsste er sich aber äußern, wenn er ein gesamtpolitisches Mandat anstreben sollte. Denn eines ist klar: wir gefährden unseren Wohlstand durch den Wohlstandsstaat und seinen immensen Ausgaben. Aber auch hier: bloß keine Inhalte.
Denn wer möchte schon einen Wahlkampf führen, in dem dem Wahlvolk die Folterwerkzeuge gezeigt werden müssenm, die in der kommenden Legislatur unvermeidlich sind: Migration in einem Maße begrenzen, dass unsere freiheitliche Grundordnung an die Wand gefahren wird; Sozialausgaben einzuschränken bis zu dem Grad, an dem die Leute auf der Straße liegen und danach auf der Straße marschieren; Steuererhöhungen für den Mittelstand bei gleichzeitigen Steuersenkungen für die Besserverdienenden, die wir im Lande halten wollen; Wehrpflicht für alle, die bei Drei nicht ausgewandert sind; Mietpreisdeckel bei gleichzeitigen Subventionen für den Wohnungsbau, Superabschreibung für Firmeninvestitionen bei gleichzeitigem Wegfall von Subventionen für E-Autos?
Sind wir in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts oder wiederholen wir die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts? Damals, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und in den Frühzeiten der Weimarer Republik, übten die Deutschen zum ersten Mal die Mechanismen der Demokratie. Heute schleicht sich der Verdacht ein, als hätten wir unsere Bürgerrechtsstunde geschwänzt.
Schauen wir in die USA, wo der designierte US-Präsident Donald Trump ein wahres Gruselkabinett zusammenbraut: ein Nato-Gegner als Außenminister, ein Rechtsradikaler als Verteidigungsminister, ein Impfgegner als Gesundheitsminister, ein Xenophob als Heimatminister, ein Milliardär als Sparkommissar, eine Einpeitscherin als Stabsministerin… Auch hier: Bloß keine Inhalte. Aber das Personaltableau lässt immerhin Raum für schlimmste Fantasien.
Wir sind noch nicht einmal so weit, das Wahlvolk über Personalien mit Fantasien zu Inhalten zu beschäftigen. Kanzlerkandidat Friedrich Merz verliert sich in Andeutungen, die Schuldenbremse könne doch fallen, wenn er erst gewählt wird. Die SPD sucht ihr Heil in ihrem Verteidigungsminister. Die Liberalen setzen auf den Mitleidseffekt, um vor der Fünf-Prozent-Hürde gerettet zu werden. Die Grünen wählen keinen Kanzlerkandidaten, sondern einen „Kandidaten für die Menschen“. Was auch immer das heißen soll: Bloß keine Inhalte!
Kein Lehrling in Deutschland muss sich so wenig Mühe bei seiner Bewerbung machen. Da gilt es, den eigenen Werdegang und die eigenen Ambitionen zu beleuchten. Für einen Kanzlerkandidaten reicht es inzwischen aus, nach Sympathiewerten in zweifelhaften Umfragen zu gehen. Doch mit Wahrheiten über die schmerzhaften Amputationen am Sozialstaat, die Mehrausgaben für die Selbstverteidigung, die auch für Klimaleugner weiter explodierenden Energiekosten und Klimafolgekosten kommt kein Politiker vorbei – aber bitteschön erst nach der Wahl: Bloß keine Inhalte
Dabei wäre es doch mal ein Ansatz, wenn wir schon keinen Digitalminister auf die Beine bekommen, ein Transformationsministerium als neues Superressort zu entwerfen, das sich um weniger soziale Umverteilung, mehr Effizienz, weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung und vor allem mehr Zukunft kümmert. Es muss ja nicht gleich ein Typ vom Schlage Elon Musks sein. Aber tatsächlich hätten wir in Deutschland auch niemanden, der erfolgreich Elektroautos baut, gleichzeitig der NASA aus ihrem Kostendilemma hilft, der Ukraine ein Kommunikationssystem zur Selbstverteidigung schenkt und schließlich mit Twitter… Aber lassen wir das: Bloß keine Inhalte.
Wie wäre es angesichts der Inhaltslosigkeit unseres Politpersonals mal mit einer Regierung aus Technokraten, die nicht auf ihre Wiederwahl schielen, sondern auf das Wohl für das Land. Um es frei nach George Clemenceau zu sagen: Die Welt ist uns zu wichtig, als dass wir sie den Politikern überlassen sollten.
Doch wir werden am 23. Februar nicht vor der Wahl stehen, was wir wählen, sondern höchstens vor der Wahl, wen wir wählen. Und dann dürfen wir abwarten, bis sich in schwierigen Dreier-Gesprächen ein Koalitionspapier ergibt, in dem vor allem Macht verteilt wird, nicht aber die wichtigsten Handlungsrichtlinien für den Wirtschafts- und Gesellschaftsstandort Deutschland. Bloß keine Inhalte.