83 Prozent der von der Bild-Zeitung Befragten betrachten die Entscheidung von Volker Wissing, nach dem Bruch der Ampel-Koalition im Amt zu bleiben und den Austritt aus der FDP zu verkünden, als Verrat an Partei und den Wählern. Wissing selbst sieht darin ebenso wie Bundeskanzler Olaf Scholz eher ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner wiederum, der durch seine Blockaden als Bundesfinanzminister ein Gutteil der Verantwortung für das Scheitern der Ampel trägt, sieht seinen Rauswurf als Verrat.
Haben wir derart unseren inneren Kompass verloren, dass wir Verrat und Verantwortung nicht mehr unterscheiden können. Machen wir, wie es die Populisten offensichtlich tun, keinen Unterschied mehr zwischen Links und Rechts? Können wir überhaupt noch zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden, nicht mehr zwischen Fake und Fact differenzieren?
In den Vereinigten Staaten wird ein Mann ins Präsidentenamt gewählt, der allen Ernstes behauptet, in Chicago gebe es Menschen mit Migrationshintergrund, die ihren weißen Mitbewohnern die Haustiere wegessen. In Thüringen und Sachsen wiederum erhalten Menschen Wählerstimmen, die glauben, in einer Diktatur zu leben und gleichzeitig den russischen Diktator und Kriegstreiber Wladimir Putin hofieren. Wo bleibt da die Moral in der Geschichte?
Wie es scheint, ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst. Statt sich den wichtigen und dringenden Sachthemen zuzuwenden, werfen sich Christian Lindner und Olaf Scholz gegenseitig Inszenierung vor, um von der eigenen Inszenierung abzulenken. Als ob überhaupt irgendetwas in unserem Politleben nicht inszeniert wäre. Bundestagsdebatten sind so ritualisiert, dass es völlig ausreicht, die 30 Sekunden Zusammenfassung in der Tagesschau über sich ergehen zu lassen.
In täglichen talgig wirkenden Talkshows hören wir kein klares Ja oder Nein auf konkrete Fragen. Ja, wir vermissen sogar die konkreten Fragen, weil sich die Moderation im streng regulierten Dialog kaum noch selbst vom Politsprech ihrer Interviewpartner freimacht und Ausgewogenheit mit Gewogenheit verwechselt. Selbst das Attentat auf Donald Trump wirkt irgendwie inszeniert. Wir sind verführt von den verführenden Fernsehbildern und handeln nur noch so, als wären wir in einer Dauerwerbesendung. Wo bleiben Moral und Anstand in der Geschichte?
Ist die Demokratie am Ende, weil wir nicht mehr diskutieren können, sondern nur noch streiten. Haben wir die einfachsten demokratischen Gepflogenheiten verlernt? Dabei zeigt uns die Demokratie gerade jetzt, wie wehrhaft sie ist, weil die Eltern des Grundgesetzes aus den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik die richtigen Schlüsse gezogen haben. Drei Möglichkeiten lässt uns unsere Verfassung offen:
· Erstens: Die Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler, deren geplantes und gewolltes Scheitern den Weg für Neuwahlen frei macht. Über den Zeitpunkt dieser Abstimmung entscheidet allein der Bundeskanzler – auch wenn das manchem nicht gefällt.
· Zweitens: Das Konstruktive Misstrauensvotum durch die Opposition, deren Erfolg sofort zur Bildung einer neuen Regierung führt, die dann wiederum Neuwahlen ausrufen kann, aber nicht muss. Über den Zeitpunkt der Abstimmung entscheidet nur die Opposition. Sie kann aber nicht darüber entscheiden, auch Zustimmung von der falschen Seite zu erhalten.
Zugegeben, auch diese beiden Möglichkeiten sind stark ritualisierte Vorgehensweisen, was sich aber in Zeiten bewährt, wo zielorientiertes Handeln offensichtlich nicht mehr möglich ist. Beide Werkzeuge des Regierungswechsels haben wir in der Bundesrepublik Deutschland schon mit Erfolg ausprobiert. Die dritte aber, nämlich die der Minderheitsregierung unter Duldung durch Teile der Opposition, ist hierzulande so suspekt, dass Unionschef Friedrich Merz von ihr spricht, als handele es sich um eine Minderwertigkeitsregierung. Dabei bahnt sich unter Führung seiner Partei in Sachsen und Thüringen genau so ein Konstrukt an.
Eine solche Konstellation wäre vielleicht gerade jetzt dazu geeignet, den Dialog zwischen den Kontrahenten wieder zu entkrampfen und unseren inneren Kompass wieder richtig zu stellen, so dass vermeintlicher Verrat und wohlgemeinte Verantwortung nicht wieder verwechselt werden. Neuwahlen ändern nichts, wenn sich die Lager, die Parteien, ja sogar Familien und Individuen weiterhin unversöhnlich und sprachlos gegenüberstehen.
Und da fällt mitten in dem Chaos der Nacht nach dem Ampel-Crash ein Satz, wie ihn wohl nur der Doktor der Philosophie, Robert Habeck, formulieren konnte: „Ich möchte eine Nachdenklichkeit in den Raum stellen, die ich nicht gleich mit einer Antwort zuballern will“, sagte er. „Wenn wir mit Abstand auf die politische Kultur in Deutschland schauen und uns überlegen, wie Demokratie eigentlich sein sollte, sind wir wirklich zufrieden?“ Ob die derzeitige Debattenkultur wirklich die sei, die das Land haben wolle? Ob sie geeignet sei, Probleme zu lösen?
Die richtige Antwort darauf – das ist die Moral von der Geschichte…