Es hätte auch die Hannover Messe der Klagen werden können angesichts der Gemengelage aus maroder Infrastruktur, Verunsicherung in der Wirtschaft, politischem Stillstand und einem erratischen US-Präsidenten, der die Welt mit Strafzöllen überzieht und einen globalen Handelskrieg vom Zaune bricht, während sein russisches Pendant im mittlerweile vierten Kriegsjahr die Ukraine zusammenbombt. Aber es wurde eine Industriemesse der Appelle an den gesunden Menschenverstand, an Mut und Zuversicht sowie an Initiative und Leistungsbereitschaft. Der geschäftsführende Bundeskanzler Olaf Scholz appellierte an die Vernunft, einen freien und fairen Welthandel zu erhalten, Christina Bilyk als Vertreterin des diesjährigen Partnerlandes Kanada appellierte an die Koalition der Willigen, nun enge Partnerschaften zwischen dem nördlichen US-Nachbarn und der Europäischen Union zu knüpfen, und VDMA-Präsident Bertram Kawlath fand die richtigen Worte, als er zu einer konzertierten Aktion aus Politik, Wirtschaft und Bevölkerung aufrief, um die industrielle Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich wieder zu steigern:
„Deutschland ist aktuell mangels Orientierung wie gelähmt und diesen Zustand müssen wir ganz schnell beenden. Dazu bedarf es einer übergreifenden, konzertierten Aktion aller: Die Politik muss handeln, es braucht spürbare Reformen. Die Unternehmen müssen ihren Beitrag leisten und mutig den technologischen Wandel in den eigenen Häusern angehen. Und die Bevölkerung muss ihren Teil beitragen und wieder mehr Leistungsbereitschaft zeigen.“
Dabei gäbe es genug Anlass zum Lamentieren: Nach den Zahlen des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau ist die Industrieproduktion in Deutschland im vergangenen Jahr um 7,2 Prozent gesunken. Doch die Hannover Messe hat auch aufgezeigt, wie die deutsche Industrie aus diesem Tal der Tränen herausfinden kann: mit Hilfe von künstlicher Intelligenz für die Automation, das Management ganzer Lieferketten und nicht zuletzt für flexiblere und nachhaltigere Prozesse. Der VDMA selbst zeigte, wo es langgehen wird: Als Konsortialführer im Wissenstransferprojekt SCALE-MX sorgt der Verband dafür, dass der Erkenntnisgewinn aus der Initiative Manufacturing X (MX) möglichst breit gestreut wird. Die von der EU finanzierte Initiative Manufacturing X soll nicht nur KI-Prozesse in den Branchen Lebensmittel, Chemie, Pharma, Elektro, Auto- und Maschinenbau in konkreten Leuchtturmprojekten vorantreiben, sondern auch als Basis ein gemeinsames, offenes Datenökosystem schaffen, das mehr Souveränität in der Cloud ermöglichen soll. Aus Industrie 4.0 wird somit Plattform Industrie 4.0 – eine Koalition der KI-Willigen.
Es ist, als hätten die Initiatoren 2024 schon vorausgeahnt, was unter einer Trump-Regierung aus Washington drohen könnte. Das Ziel, mehr Resilienz in den Lieferketten zu erreichen, wenn internationale Lieferbeziehungen fragil werden und alte Märkte wegbrechen können, stärkt sicherlich den Wirtschaftsstandort Deutschland in unsicheren Zeiten.
Dass es um Daten und Arbeitsprozesse als zentraler Angriffspunkt für KI-Unterstützung geht, bewies auch Microsoft, das zu seinen Copiloten im Büro nun auch Assistenten für die Fertigungsebene vorstellte. Der „Factory Operations Agent“ soll Abläufe in der Fabrikhalle optimieren, indem die Statusdaten der Maschine in natürlicher Sprache abgefragt und analysiert werden können. So können Fehlerquellen identifiziert und schnell Entscheidungen über zu ändernde Fertigungsprozesse getroffen werden. Die KI-Agenten und Copiloten sind ein frappierendes Beispiel dafür, wie sich eine Company immer wieder neu erfinden kann. Im Jahr seines 50. Geburtstags *) definiert sich Microsoft längst nicht mehr als „Windows Company“, sondern als Marktführer für Artificial Intelligence.
KI und die fortschreitende Automation von Produktion und Prozessen waren die Hauptthemen auf der Hannover Messe. Kaum ein Messestand der knapp 4000 Aussteller kam noch ohne Demopunkte für Künstliche Intelligenz aus. Beeindruckend war zum Beispiel, wie KI-Unterstützung Roboter beweglicher und „achtsamer“ macht. So waren Systeme zu sehen, die spontan ausweichen, wenn sich ein Mensch in den Arbeitsbereich bewegt. Andere KI-Systeme können über Maschinelles Lernen eigenständig auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren und die Abläufe auf dem Shop Floor entsprechend anpassen.
Wenn man eine gute Seite an der Investitionszurückhaltung in der deutschen Wirtschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte finden wollte, es wäre die Chance, die vertane Zeit jetzt aufzuholen, indem in KI-Lösungen für die Industrieproduktion investiert wird. Denn während nach einer Umfrage des Hightech-Verbands Bitkom schon heute zwei von fünf Industrieunternehmen mit mehr als 100 Beschäftigen nach eigenen Angaben KI auf der Fertigungsebene einsetzen, planen 35 Prozent, mit KI-Projekten in diesem Jahr zu beginnen. Und die Koalition der KI-Willigen wächst weiter: 82 Prozent der Befragten sind überzeugt, dass Künstliche Intelligenz entscheidend ist für die Stärkung der deutschen Industrieproduktion. Aber gleichzeitig ist die Sorge groß, dass Deutschland auch diesen Zukunftstrend verschlafen könnte. Die Industriemesse in Hannover war deshalb auch ein Appell an die „schlafende Minderheit“, jetzt zur Koalition der KI-Willigen aufzuschließen.
*) …und zum Abschluss hier erneut mein Glückwunsch an Microsoft zur Gründung am 4. April 1975:
50 Jahre Microsoft! Als Zeitzeuge und Wegbegleiter gratuliere ich mit Bewunderung und Respekt für Visionen, Partnerschaft und Innovation. Danke an @satyanadella und Team – weiter so!