Vor einem Vierteljahrhundert bezifferte der Hightech-Verband Bitkom den Mangel an Fachkräften in der Informationstechnik auf rund 30.000 offene Stellen. Aus heutiger Sicht klingt das geradezu paradiesisch – denn auf lange Sicht benötigt die deutsche Wirtschaft branchenübergreifend den Zuzug von 400.000 gut Ausgebildeten jährlich.
Das Bemühen, Deutschland zu einem Einwanderungsland umzugestalten, in dem eine echte Willkommenskultur vorherrscht, wurde mit xenophoben Parolen überlagert: Anfang 2000 machte der damalige CDU-Oppositionsführer im Nordrhein-Westfälischen Landtag, Jürgen Rüttgers, unrühmlich auf sich aufmerksam, indem er mit dem populistischen Statement „Kinder statt Inder“ gegen die Green-Card-Initiative der damaligen Bundesregierung polemisierte. Heute hört man solche nationalistischen Parolen eher von Björn Höcke und anderen AfD-Mitgliedern. Wir sind nicht weiter gekommen…
Die Initiative war dennoch erfolgreich. So ist die Zahl der Inder in Deutschland von 39.000 im Jahr 2004 auf 246.000 im vergangenen Jahr angestiegen – unter ihnen 50.000 Studierende. Der Großteil ist in der Tat IT-affin, aber auch Ingenieure und andere Uni-Absolventen mit technisch-wissenschaftlichem Hintergrund sind zu uns gekommen. Sie bilden die Gruppe mit einem der höchsten Bildungs- und Einkommensniveaus in Deutschland. Jetzt will die Bundesregierung aber auch Busfahrer, Pfleger und Mechatroniker ins Land holen. Zu diesem Zweck reiste jetzt das halbe Bundeskabinett zum Gipfeltreffen nach Neu Delhi, um eine Win-Win-Situation für beide Länder herbeizuführen – den Arbeitskräftemangel hierzulande und die Jugendarbeitslosigkeit dort zu bekämpfen.
Eine knappe Woche zuvor gab sich das halbe Bundeskabinett in Frankfurt die Klinke in die Hand, um den deutschen Digitalgipfel zu beehren. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bemühte eine andere Phrase aus dem deutschen Polit-Sprech, indem er „blühende Landschaften“ mit künstlicher Intelligenz versprach, während Bundesverkehrsminister Volker Wissing nach dem gescheiterten „Digital First“ nun das Zeitalter des „Digital Only“ einzuläuten hofft. Doch tatsächlich ist es eher so, als würde man „mit Bleiwesten Fußball spielen müssen“, beklagte Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Vor allem die in Deutschland exzessiv ausgelegten EU-Regelungen der Datenschutz-Grundverordnung und des AI Acts verhindern, dass der Traum von einer führenden KI-Nation vorerst wahr wird. Und der grassierende Fachkräftemangel verhindert, dass sich mittelständische Unternehmen genügend Kompetenz hereinholen können, um mit Hilfe von KI genau jenen Fachkräftemangel zu lindern. Ein Teufelskreis!
Doch schon zieht die Kabinetts-Karawane weiter – zum Industriegipfel, für den Bundeskanzler Olaf Scholz Unternehmensvertreter, Gewerkschafter und Wirtschaftsverbände eingeladen hat. Allerdings hat er offensichtlich Familienunternehmen vergessen – und die reagieren entsprechend sauer. Denn es sind gerade die mittelständischen Betriebe, deren Fortbestehen mehr und mehr von ausländischen Fachkräften, von KI-Lösungen und nicht zuletzt von Investitionsanreizen und Entbürokratisierung abhängt. So schimpft Sarna Röser, ehemalige Verbandschefin der Jungunternehmer, über die lückenhafte Gästeliste: „Der geplante Industriegipfel von Olaf Scholz ist ein Schlag ins Gesicht für den deutschen Mittelstand.“
Nun – auch auf dem Autogipfel Ende September waren die Großen unter sich, obwohl die stark mittelständisch strukturierte Zulieferindustrie gerade unter einer Insolvenzwelle ächzt. Vielleicht ist es ein Trost, wenn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck jetzt ganz ohne Gipfeltreffen der Bild-Zeitung anvertraut, dass er ein Förderpaket schnüren will, das auch dem Mittelstand helfen könnte. Aus dem milliardenschweren „Deutschland-Fonds“, der vermutlich als Sondervermögen am Bundeshaushalt vorbeigeschmuggelt werden soll, könnten Mittelständler, etwa zehn Prozent der Investitionssumme für neue Maschinen aus der Staatskasse erstattet bekommen. Es klingt, als würde die Bundesregierung den vom BDI seit langem geforderten „Transformations-Fonds“ tatsächlich aufgreifen.
Der Minister zu Bild: „Es braucht jetzt volle Kraft für den Wirtschaftsstandort.“ Wie wahr! Doch ist zu befürchten, dass die Gipfelstürmer den Aufstieg zu spät angehen. Zu spät für ein schnelles Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft, aber wohl auch zu spät für den nächsten Bundestagswahlkampf.