Ende der sechziger Jahre war Deutschland ein vielfach zerrissenes Land. Im Westen herrschte ein ungehemmter Fortschrittsglaube, der durch die erste bemannte Mondlandung stimuliert wurde. In der BRD wurden allein 1969 Hunderte Brücken, 350 Kilometer Autobahn und Verkehrsschneisen wie am Fließband eröffnet. Die anderen protestierten auf Transparenten gegen „den Muff aus Tausend Jahren“, ehe sie sich in der RAF radikalisierten. Im Osten eröffnete die DDR mit feierlichem Pomp den Fernsehturm am (sic!) 3. Oktober 1969. Und Walter Ulbricht startete eine neue Technologieoffensive unter dem Slogan „Überholen, ohne einzuholen“, mit der die nächste Fortschrittstufe einfach übersprungen werden sollte. Das Ergebnis war übrigens unter anderem der „Megabit-Chip made in GDR“, im Volksmund auch spöttisch „der erste begehbare Mikrochip“ genannt.
Nun Mondlandungen gibt es schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr, die RAF ist so gut wie tot, dafür haben wir jetzt den Islamischen Staat. Die Wirtschaftspolitik der DDR ist ebenso wie die DDR selbst den Bach runtergegangen. Nur der Fernsehturm steht noch – auch wenn ein solcher Sendemast in der Zeit der Digitalisierung nicht mehr unbedingt gebraucht wird. Statt ein Symbol des Fortschritts zu sein, ist er nun eher ein Mahnmal der Rückständigkeit – ebenso wie sein Westberliner Pendant, der Funkturm.
Und auch die bröckelnden Brücken und gesperrten Autobahnteilstücke sind heute ein Mahnmal der Rückständigkeit – zusammen mit dem maroden Schienennetz und dem „Muff aus Tausend analogen Jahren“ in unseren Verwaltungen. Vieles erinnert an das Jahr 1969: Willy Brandt rief dazu auf, „mehr Demokratie zu wagen“, heute fühlen wir uns dazu aufgerufen, „mehr Demokratie zu retten“!
Nun, Demokratie entsteht durch Teilhabe – und immer weniger Menschen im globalen Osten und Westen entwickeln das Gefühl, teilzuhaben oder teilzunehmen am politischen Geschehen. Das ist auch der schleppenden Digitalisierung in unseren Verwaltungen geschuldet, die vielen Bürgerinnen und Bürgern immer noch den Weg „aufs Amt“ zumuten, auch wenn immer mehr stadtteilnahe Bürgerbüros schließen oder zu unmöglichen Zeiten geöffnet haben. Nach einer Umfrage des Hightech-Verbands Bitkom würden die Deutschen etwas mehr als drei Viertel der Verwaltungsakte lieber online absolvieren. Unter den Aktivitäten, die weiterhin analog und vor Ort geschehen sollten, rangiert der Gang zum Standesamt ganz vorn.
Doch das Angebot an digitalen Diensten in den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen ist immer noch dünn gesät – und das nach nunmehr einem Vierteljahrhundert an Bestrebungen zur Entbürokratisierung und Digitalisierung in den Behörden. Lediglich 15 Prozent der Deutschen haben laut Bitkom überhaupt schon mal einen digitalen Verwaltungsakt in Anspruch genommen – und nur jeder Dritte von ihnen war mit dem Prozess zufrieden. Häufigster Digitaldienst war die Online-Terminvereinbarung – ein Treppenwitz, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieser Online-Service zur Vorbereitung eines analogen Verwaltungsaktes dient, nämlich dem Gang aufs Amt.
Doch unsere Rückständigkeit könnte eine Chance sein – bei einer digitalen Transformation à la „Überholen, ohne einzuholen“. Dabei sollten wir uns das Baltikum zum Vorbild nehmen, wo nach dem Ende der Sowjetunion und des von ihr beherrschten Rats zur gegenseitigen Wirtschaftshilfe Comecon, ein großer digitaler Sprung nach ganz vorn gelungen ist. Davon haben sich in diesen Tagen unter dem Berliner Funkturm rund 18.000 Besucher überzeugen können, die das digitale Partnerland Litauen bei der Smart Country Convention (SCCON) besichtigten. Es fühlt sich ein wenig an wie der Erstbesuch eines Ostberliners in einem Westberliner Supermarkt, am Tag nach dem Mauerfall 1989. Man staunt, was digital möglich ist, wenn man nur will.
Doch zum „Überholen, ohne einzuholen“ fehlen uns seit Jahren sowohl die Mittel wie auch der Wille. Nach Berechnungen der Europäischen Union wird im nächsten Jahr von allen Mitgliedsstaaten nur Irland noch weniger für die Erneuerung seiner öffentlichen Infrastruktur ausgeben als Deutschland. Hier sind es aktuell lediglich 2,7 Prozent des öffentlichen Haushaltsvolumens. Das entspricht gerade einmal 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! Es reicht nicht mehr, Conventions zu besuchen und die Beispiele unserer Nachbarländer zu bestaunen. „Window Shopping“ war gestern.
Lasst uns endlich aus dem Quark kommen! Wir müssen investieren, digitalisieren und transformieren – und sei es unter einem so absurden Motto wie „Überholen, ohne einzuholen“.
Dies ist Bonnblog Nummer 800. Seit dem November 2009 poste ich regelmäßig über den deutschen Mittelstand, die Digitalisierung und – leider – die Bräsigkeit der deutschen Bundesregierungen. Ich rechne nicht damit, die 1000 vollzumachen. Aber ich hoffe, dass ich noch die „geistig-digitale Wende“ erleben werde.