Kontrollverlust
Das Lexikon der Psychologie definiert Kontrollverlust als „das Fehlen subjektiver Kontrolle“ – und deckt damit schon ein zentrales Missverständnis auf: es gibt nämlich keine objektive Kontrolle. Das ahnte – so weit darf man im Kant´schen Jahr wohl mal ausholen – bereits der große Vordenker der Aufklärung, Immanuel Kant. In seiner – bedauerlicherweise weniger beachteten – „Kritik der Urteilskraft“ macht er deutlich, dass Urteile stets auf subjektiven Kriterien beruhen und zugleich einer subjektiv wahrgenommen „Zweckmäßigkeit“ unterliegen. Im Unterschied zur – allerdings nur theoretischen existierenden - „reinen Vernunft“ in Kants Hauptwerk, ist die Urteilskraft also eher Vermittlerin als Richterin.
Warum dieser Ausflug in die Erkenntnistheorie? Weil uns der Umgang mit den Phänomenen der künstlichen Intelligenz genau in diese philosophischen Sphären von Moral, Ethik und Erkenntnis führt. Und weil, wie das Mittelstands-Netzwerk Sellwerk in einer Umfrage unter mehr als Tausend mittelständischen Unternehmern ermittelte, die Angst vor Kontrollverlust der Haupthinderungsgrund für den Einsatz von KI im Mittelstand zu sein scheint. Nach Kant dürfen wir aber hinterfragen, ob denn jemals objektive Kontrolle über einen Prozess bestanden hat. Kontrolle ist (tut mir leid) einfach nur eine Schimäre, an die viele fest glauben, obwohl sie tagtäglich eines Besseren belehrt werden.
Denn ob man die Steuerung eines Geschäftsprozesses einem vergleichsweise dummen ERP-System überlässt, der Intuition eines erfahrenen Mitarbeiters anvertraut oder gar dem Controlling durch vordefinierte Key Performance Indicators unterzieht – stets sind es subjektive Einschätzungen, die dieser Kontrolle unterliegen. Das ist beim Einsatz von KI-Systemen nicht anders. Sie stützen sich auf ein Datenmaterial, das eventuell subjektiv ausgewählt wurde, und analysieren es anhand von Algorithmen, die ein wohlmeinender, aber ebenfalls subjektiv gefärbter Programmierer ihnen vorgegeben hat. Unsere heutigen KI-Systeme führen also nicht zu mehr Kontrollverlust als er durch das Vertrauen in einen Mitarbeiter ebenfalls riskiert werden würde.
Dabei sehen die von Sellwerk befragten Manager im potenziellen KI-Einsatz durchaus Vorteile: Zeitersparnis, genauere Analysen sowie verbesserte Prozesse und Produkte. Als wenn nicht genau das Kriterien eines Kontroll-Gewinns wären! Die Studie erinnert an die Situation im Mittelstand, als Ende der 1970er Jahre PPS- und ERP-Systeme ihren Einzug in die Betriebswirtschaft hielten. Auch damals war es die Angst vor dem Kontrollverlust, die Entscheider daran hinderte, fürderhin auf ihre guten alten Lochkarten und Listen-Ausdrucke zu verzichten und stattdessen Tabellen und Datenbanken zu vertrauen. Und auch das Aufkommen des Personal Computers Anfang der achtziger Jahre war geprägt von der Sorge um Kontrollverlust, der sich dadurch manifestieren konnte, dass Mitarbeiter plötzlich einen eigenen Rechenkerl auf dem Schreibtisch hatten. Kontrollverlust war auch das Argument gegen Cloud Computing, solange die Sorge überwog, dass die Daten in der Cloud einfach davonfliegen würden. Und erneut stellte sich die Angst vor Kontrollverlust ein, als Mitarbeiter in der Corona-Pandemie ins Home Office entlassen werden mussten…
Der aktuelle Microsoft Work Trend Index, der immerhin auf der Befragung von 31.000 Beschäftigten in Unternehmen aus 31 Ländern beruht, zeigt eine deutliche Diskrepanz zwischen Mitarbeitern, die mehr KI-Einsatz im Unternehmen wünschen – immerhin 77 Prozent der Befragten, und jenen 59 Prozent der Manager, die mit dem Einsatz von KI im eigenen Betrieb zögern, weil es ihnen an überprüfbaren Kriterien zur Quantifizierung des Projekterfolgs fehlt. In der Tat sind „gefühlte“ Zeitersparnis, höhere Kreativität oder Befreiung von Routinetätigkeiten Vorteilsargumente, die sich nur schwer in das enge Korsett eine Spreadsheets im Controlling pressen lassen.
Insofern ist künstliche Intelligenz – wie zuvor schon der Personal Computer oder das Cloud Computing – auch eine Lösung auf der Suche nach einem Problem. Aber wollte noch jemand auf PCs, Smartohones oder die Cloud verzichten? Dabei haben sie sämtlich zu mehr Kontrollverlust im Unternehmen geführt, dafür aber die schwer messbaren Werte wie Eigeninitiative, Selbstbestimmung, Kreativität und ganzheitliches Denken gefördert. Kein modernes Unternehmen käme heute noch ohne diese „Virtues“ aus oder könnte nur darauf hoffen, die Begabten und Qualifizierten an sich zu binden.
Es ist nie verkehrt, gegenüber neuen Technologien ein gerüttelt Maß an Misstrauen zu entwickeln. Aber das kann kein Ersatz für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Neuen sein. Das zeigt auch die Sellwerk-Befragung; Die Mehrheit der Betriebe fühlt sich noch nicht fit im Umgang mit KI. Über die Hälfte gab an, bisher noch gar keine KI-Instrumente zu nutzen. Da ist es zwar irrational, aber dennoch nicht überraschend, dass die meisten Betriebe nicht einmal planen, den Widerspruch zwischen Hoffen und Bangen aufzulösen. Denn Investitionspläne in KI in den nächsten zwölf Monaten gibt es bei beinahe 60 Prozent der Befragten nicht.
Dann könnte es bereits zu spät sein angesichts der rasanten Entwicklung, die die KI-Technologie bereits in den zurückliegenden zwölf Monaten genommen hat. Der dann im kommenden Jahr folgende Kontrollverlust für Nachzügler und Verweigerer könnte nicht tiefgreifender sein. Er führt möglicherweise sogar in die Geschäftsaufgabe. Vielleicht sollte man im Kant-Jahr doch einmal über seine Gedanken zur Vernunft nachlesen…









