Die Mitte dünnt aus
24 Parteien standen in Deutschland zur Wahl für das Europaparlament. Zu den acht im Bundestagvertretenen Parteien (so viel übrigens wie noch nie), nämlich SPD, Grüne, FDP, CDU, CSU, Linke, BSW und AfD, also immerhin noch doppelt so viele Alternativen. Dabei waren Optionen genug, um den Protest gegen die von den etablierten Parteien getragenen Politikern und Politikerinnen zum Ausdruck zu bringen, deren vermeintliches Versagen im Vorfeld der Europawahl von so vielen in Fernsehdebatten und auf der Straße beklagt wurde, ohne dass gleich zu den Extremen am rechten und linken Rand gegriffen werden musste. Man hätte ja auch die Bienen retten (ödp), Bibelstunden fördern oder den Klamauk (Die Partei) ins Parlament tragen können…
Nun, es kam nicht so schlimm wie befürchtet, aber nicht so gut wie erhofft. Zwar hat die AfD mit 15,9 Prozent nach der Union die meisten Stimmen auf sich vereinen können (und ist im Osten sogar stärkste Kraft geworden), doch hatten die Prognosen ein deutlich stärkeres Abschneiden vermuten lassen. Die Union wird stärkste Partei (30,2 Prozent), während SPD und Grüne mit 14, beziehungsweise zwölf Prozent gerade noch zweistellig blieben. Die FDP (fünf Prozent) musste das BSW an sich vorbeiziehen lassen und wird wohl weiter in späteren Wahlen mit der Fünf-Prozent-Hürde ringen. Die Linken sind in die Bedeutungslosigkeit der Sonstigen abgefallen.
Dass die die Ampel-Regierung tragenden Parteien abgestraft werden würden, konnte niemanden überraschen. Zu zerstritten, ja zerrissen haben sich die Koalitionäre in der Vergangenheit gezeigt – und sind damit unfreiwillig ein Spiegelbild der gespaltenen Gesellschaft, deren Lager sich mehr und mehr unversöhnlich gegenüberstehen. Es sind beinahe amerikanische Verhältnisse auch in Deutschland zu beklagen.
Dass die Union zulegen würde, war ebenso erwartet worden – aber gleichzeitig muss sie deutliche Abwanderungsbewegungen in Richtung AfD zur Kenntnis nehmen. Die Sehnsucht nach mehr Wohlstand für alle wird von der Union bedient, obwohl gerade die Ampel die Umverteilung von oben nach unten betreibt. Doch in Krisenzeiten wählen die Deutschen traditionell die Mitte, beziehungsweise rechts von der Mitte. Wie weit rechts von der Mitte – das hat diese Europawahl nicht nur in Deutschland gezeigt: Die AfD profitierte laut Wählerwanderungs-Analyse im gleichen Maße von der Union wie von der SPD und der FDP. Die Mitte dünnt aus.
Und Krisenzeiten sind es in der Tat, in denen wir heutzutage wählen gehen: neben den von Russland und der Hamas angezettelten Kriegen zeigen gerade die aktuellen Hochwasserstände, wo unsere wesentlichen Nachhaltigkeitsherausforderungen liegen. Wehrhaft zu sein gegen innere und äußere Bedrohungen und gleichzeitig Vorkehrungen gegen Naturkatastrophen zu treffen – die Aufgaben werden uns über Jahrzehnte beschäftigen. Dass wir uns dabei umorientieren müssen und neben der Migrationswende, der Energiewende auch eine Mobilitätswende, eine Wende zu mehr Pflege und weniger Bürokratie hinbekommen müssen, ist jedem klar. Doch die Parteien, die darauf eine Antwort zu geben versuchen, werden dafür abgestraft. Die Bewegungen ohne substanzielle Programme bekommen hingegen Zulauf.
Am Ende zählt, was im Portemonnaie übrigbleibt – und dominiert die Wahlentscheidung. Egal ob „blühende Landschaften“, „Wohlstand für alle“, „sichere Rente“, „Aufbruch statt Abschwung“ oder „Leistung muss sich lohnen“ – die Wohlstandsversprechen der Wahlkämpfer lösen kein Wohlgefühl mehr aus. Wir sind gefangen in unserem eigenen Materialismus, in dem ein gesichertes Einkommen, eine verlässliche (wenn auch erneuerungsbedürftige) Infrastruktur nicht mehr ausreicht, um Zufriedenheit und – typisches deutsches Wort – Gemütlichkeit zu erzeugen. Zu viele sind enttäuscht von ihrem Leben und dem, was die Politik ihnen bietet, ohne konkret sagen zu können, was eigentlich besser werden muss. Gesehen wird nur noch das, was andere haben – oder vermeintlich wegnehmen.
Mario Cuomo, Sohn italienischer Einwanderer und langjähriger Gouverneur des US-Bundesstaates New York, hat in einer Grundsatzrede ( am Iona College 1984 ) als Antwort auf die „Reaganomics“ des US-Präsidenten Ronald Reagan die dunklen Seiten des Materialismus aufgezeigt, weil eben nicht alle gleichermaßen vom verheißenen Wohlstand profitierten und die Schere zwischen Arm und Reich sich im Gegenteil immer weiter öffnete. Er verglich das Amerika der Reagan-Ära mit der „Geschichte zweier Städte“ (Charles Dickens), in der die eine immer weiter prosperiert, die andere hingegen von Neid zerfressen immer radikaler wird. Es ist erstaunlich, wie hellsichtig er das heutige US-Amerika vorwegsah. Es bleibt zu hoffen, dass wir in Europa durch die Geschichte gewarnt sind – nicht nur durch unsere eigene Geschichte, sondern auch durch das warnende Beispiel aus den USA. Europa braucht Einigkeit in der Vielfalt. Was wir gewählt haben, sieht eher nach Abgrenzung und Zwietracht aus.









