Es tönt über fast zwei Jahrtausende zu uns und unserem Umgang mit künstlicher Intelligenz durch: „Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts.“ Und weiter heißt es im ersten Korintherbrief des Apostel Paulus von Tarsus: „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, / dann aber werde ich durch und durch erkennen.“
Es ist das Hohe Lied der Liebe, das etwa im Jahr 60 unserer Zeitrechnung entstand – und würden wir heute das Wort „Liebe“ durch „Empathie“ ersetzen, hätten wir einen der wichtigsten Grundsätze für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft: „Ohne Empathie ist alles nichts.“ Was das mit künstlicher Intelligenz zu tun hat? Wir müssen offensichtlich lernen, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, auch auf die Äußerungen von Sprachassistenten ausdehnen! Wenn wir nicht verstehen, wie und warum eine generative KI zu einem Ergebnis gekommen ist, können wir sie nicht zuverlässig nutzen. Wir können sie nur ungefiltert konsumieren.
Schon heute heißt es, dass die Überprüfung von KI-Ergebnissen so aufwändig ist, wie die eigene Recherche. Das führt zu einem interessanten Paradox: Je intelligenter KI-Systeme werden, desto intelligenter müssen auch ihre verantwortungsvollen Nutzer sein. Stattdessen zeigen Studien, dass der durchschnittliche Intelligenzquotient der Menschheit seit 20 Jahren kontinuierlich sinkt. Gleichzeitig treten Verhaltensstörungen und Autismus immer häufiger auf. Forschende sehen die Ursache darin, dass wir unfreiwillig immer mehr Polychlorierte Biphenyle aufnehmen. Diese sogenannten Umwelthormone werden in unzähligen Alltagsgegenständen verarbeitet und beim Umgang mit ihnen von unserem Körper aufgenommen.
Was wie eine obskure Verschwörungstheorie klingt, hat leider inzwischen ein ernstzunehmendes wissenschaftliches Fundament. Hinzu kommt aber eine Ursache, deren Wirkung sich deutlich schneller einstellt: Smartphones und künstliche Intelligenz erlauben es uns, uns bei praktisch jeder Denkaufgabe zurückzulehnen und „das Internet“ zu befragen. Wir müssen uns nicht mehr an den Namen eines Prominenten erinnern, wenn man ihn googeln kann. Wir müssen uns auch nicht mit einer kniffligen Antwort auf eine Kundenanfrage plagen, wenn man den Chat einem Bot überlassen kann. Wir werden dümmer, weil wir den „Gehirnmuskel“ nicht mehr im notwendigen Maße trainieren!
Das ist gefährlich, wenn wir jeden Blödsinn und jede Halluzination, die aus einem Sprachassistenten stammen, ungeprüft verbreiten und uns zu eigen machen. Das ist noch gefährlicher, wenn wir auf diese Weise verlernen, anderslautende Ansichten anzuhören und – Stichwort: Empathie – nachzuvollziehen. Der mangelhafte politische Diskurs in den USA, in Europa oder in Russland und China, wo es ihn schon gar nicht mehr gibt, müsste uns Warnung genug sein. Wir entwickeln uns zu Meinungsautisten, die sich nur noch in ihrer eigenen Echokammer aufhalten.
Vor der sich dadurch entwickelnden „geschlossenen Gesellschaft“ warnte vor einem guten halben Jahrhundert bereits der Philosoph Karl Popper, dessen Todestag sich in wenigen Wochen zum 30. Mal jährt. Sein Gesellschaftsmodell der „offenen Gesellschaft“ beruht vielmehr auf der Fähigkeit, zuhören zu können, Meinungen auch dann anzunehmen, wenn ihnen zunächst eine wissenschaftliche Begründung fehlt, und den Dialog mit Andersdenkenden zu suchen. – Alles Fähigkeiten, die uns inzwischen im politischen wie im wirtschaftlichen Zusammenleben abhandenkommen. Stattdessen entwickeln sich wechselseitige illoyale Verhaltensweisen: Massenentlassungen zugunsten des Aktienkurses einerseits und Job-Hopping aus Angst, Leistung „liefern“ zu müssen.
Dabei ist es keinesfalls falsch, neue Herausforderungen zu suchen und eine Karriere als „ewig lernender Mensch“ anzustreben. Vorbei sind die Zeiten des „you learn, you earn, you retire!“ Wer sich für ein Leben als Spezialist entscheidet, bleibt ewig in seiner Nische. Wer jedoch den Mut hat, als Generalist mit Spezialisten zusammenzuarbeiten, kann sich selbst und seine Umgebung weiterentwickeln. Doch dies gelingt nur mit einem gerüttelten Maß an Empathie.
Microsofts Europachef, der Deutsche Ralph Haupter, hatte vor wenigen Tagen die Ehre, die Abschlussrede vor dem diesjährigen Entlassungsjahrgang der Wirtschaftshochschule Madrid zu halten und empfahl den Absolventen genau dies: Angesichts der stürmischen Entwicklung, die die Technologie in diesen Tagen nimmt, muss man ein ewig lernender Mensch bleiben. Man sollte dabei Risiken eingehen, bereit sein, Fehler zu begehen und Fehlschläge hinzunehmen. Vor allem aber müssen wir alle die Fähigkeit zurückgewinnen, anderen zuzuhören. Das gilt für Generalisten und Spezialisten gleichermaßen. Und es gilt erst recht gegenüber Andersdenkenden. Und es gewinnt gegenüber den Äußerungen eines KI-gestützten Sprachassistenten an Bedeutung. Denn ohne Empathie ist alles nichts.